Bloggequatsche

[Bloggequatsche] Walking in my shoes

April 3, 2019

Für den folgenden Text musste ich einige Male tief durchatmen, denn auch wenn mir das Schreiben leicht von der Hand ging, liegen mir die Worte sehr am Herzen und es kostet mich auch Überwindung dies zu schreiben. Am vergangenen Wochenende ist mir jedoch erneut etwas klar geworden und ich glaube, solche Texte zu schreiben tut nicht nur mir gut, sondern könnte andere ermutigen auch ihre Stimme zu erheben.

 

 

„If you can learn a simple trick, Scout, you’ll get along a lot better with all kinds of folks.You never really understand a person until you consider things from his point of view, until you climb inside of his skin and walk around in it.” 
– Atticus Finch in To Kill A Mockingbird by Harper Lee

Dieser Ausspruch von Atticus Finch, Scouts Vater, entspricht der absoluten Wahrheit, er ist aber ein Punkt, denn viele oftmals vergessen. Ein erster Blick entscheidet, ein Urteil wird gefällt, bevor man überhaupt einer Person die Gelegenheit gegeben hat, sich mitzuteilen oder einfach sich in sie hinein zu fühlen.

Was war der Auslöser für diesen Beitrag? Mir wurde mal wieder vorgehalten, wie dick ich bin und ob ich denn nicht etwas „dagegen unternehmen“ will. Mal davon abgesehen, dass solche Aussagen total verletzend sind, zeugen sie doch vor allem von einer Ignoranz gegenüber der Person zu der man diese Aussage trifft. In dieser Situation gibt es für mich meistens zwei bzw. drei Optionen. Die erste Option ist die Erklärung, man versucht sich zu erklären, versucht richtig zu stellen und nett mit dem Gegenüber zu kommunizieren. Die zweite Option ist das darüber hinweglächeln, man wechselt das Thema und versucht womöglich das Gesagte zuvor mit einem kurzen Lachen abzutun. Und zum Schluss die dritte Option, die Verteidigung, man erklärt, dass es dem Gegenüber nichts angeht, dass es der eigene Körper ist, mit welchem er nichts zu tun hat. Ich wünschte ich könnte immer auf Option drei schwenken, doch leider lande ich meistens bei eins oder zwei, und am Ende im Stillen noch mit Tränen in den Augen.

Wer mich schon länger kennt, der weiß, dass ich früher sportlich sehr aktiv unterwegs war, was vor allem daran lag, dass ich den Mannschaftssport als mein Ausgleich zu Arbeit angesehen habe. Dennoch war ich nie das „dünne Mädchen“, sondern schon in jungen Jahren curvy. Als ich dann wegen Interessenwechsel und dem beginnenden Studium mit dem Sport aufhörte, fing mein Körper sich bei einem für mich angenehmen Gewicht ein und ich fühlte mich wirklich wohl, auch wenn ich bereits an diesem Punkt nicht mehr als „dünn“ bezeichnet wurde. Richtig problematisch wurde es erst vor ungefähr 2 1/2 – 3 Jahren, als offenbar mein Körper immer mehr Fettreserven anbaute, obwohl ich mich in Sachen Ernährung und Bewegung nicht geändert hatte. Nach einiger Zeit der Ungewissheit stellte sich dann heraus, dass sich meine Schilddrüse minimiert hatte, und zwar um 2/3. Was die meisten jetzt vielleicht nicht wissen, die Schilddrüse ist ein maßgebendes Organ für euren Stoffwechsel, bedeutet, wenn dieses Organ nicht mehr volle Leistung bringt, dann läuft der Stoffwechsel nicht rund und ihr setzt Fett und Wasser an. Und genau das ist mir passiert, innerhalb einer kurzen Zeitspanne änderte sich mein Körper komplett. Könnt ihr euch vorstellen wie es mir dabei ging? Die Blicke von anderen, weil man zunimmt? Die sich „ihren Teil denken“ ohne zu wissen, was in die vorgeht? Mir ging es damit richtig schlecht, ich habe mir Vorwürfe gemacht, mit meinem Arzt darüber gesprochen, das Problem ist, dass der Vorgang der Einstellung der Hormone und der massive Abbau der Schilddrüse einfach zu viel war. Ich hätte meine Ernährung so sehr runterfahren müssen (wir sprechen hier von Unterernährung) und zum Ausgleich dazu jeden Tag Sport machen müssen (bei Vollzeit-Job und Studium), dass ich stattdessen lieber in Tränen ausbrach und mich verkrochen habe.

Zum Glück habe ich Freunde und einen Freund, die mich so liebe wie ich bin. Das hat mich aufgebaut, mich gestärkt und mich zu meinem jetzigen Punkt kommen lassen. Aktuell kann ich, ohne massiven Aufwand mit erneuten fatalen Folgen für meinen Körper und Geist, nichts gegen diese Krankheit tun. Ich nehme Tabletten und hoffe, dass es nicht schlimmer wird. Ich habe genau das akzeptiert, und gelernt mich so zu mögen wie ich bin, ich habe etwas ganz Wichtiges für mich erkannt. Ich bin mehr als die Maße, die meinen Körper beschreiben. Eine Hosengröße sagt nichts darüber aus, wer ich bin oder wie wertvoll ich für andere Menschen sein kann.Ich möchte euch aber auch nichts vormachen, ich habe lange, vermutlich zu lange, gebraucht um an diesen Punkt zu kommen. Und dennoch schmerzt es immer noch, wenn ich abfällig angeschaut, betitelt und gezielt nur dieses Thema angesprochen wird. Dennoch erkenne ich in dieser Erfahrung eine wichtige Aussage:

Beurteile niemals einen Menschen anhand des ersten Blickes! Laufe in seinen Schuhen durchs Leben, lebe in seiner Haut, und dann bedenke noch einmal dein Urteil. Das Leben eines Menschen ist so viel mehr als nur ein Blick, es besteht aus so vielen Facetten wie ein Regenbogen, und jede Farbe sollte von dir Beachtung bekommen.

Natürlich ist niemand perfekt, jeder macht Fehler oder trifft Vorurteile, doch je schneller dir nach diesem Moment klar wird, dass du einen Menschen erstmal kennenlernen solltest, umso mehr freut sich dein Gegenüber. Denn du gibst ihm die Chance gehört zu werden, und zu erkennen, dass er mehr wert ist, als nur ein Blick.

Damit habe ich mir erneuet etwas von der Seele geschrieben, was da viel zu lange herumlag und sich in meinem Kopf festgesetzt hatte. Natürlich seid ihr wieder herzlich dazu eingeladen, in den Kommentaren euch zum Thema mitzuteilen, natürlich in einem respektvollen Umgang.

Eure Sandra

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  1. Liebe Sandra, ich danke dir für diesen Beitrag, der mich gerade etwas wohler in meiner Haut hat fühlen lassen. Ich war als Kind meist zu dünn, so dass meine Mama sich bereits rechtfertigen musste. Ich betätige mich sportlich, habe Hund und Pferd die regelmäßig bewegt werden wollen. Wir essen sehr gesund, achten auf unsere Ernährung und seit einem Krankheitsfall in der Familie achtet meine Mama sogar noch penibler darauf, was wir essen. Dennoch wurde ich vom zu dürren Mädchen zum curvy Mädchen und die Rundungen nahmen zu.
    Der Hausarzt meinte dazu nur: „Dann beweg dich halt. Geh ins Fitnessstudio.“ Auf meinen Einwand, dass ich mich bereits bewege, reagierte er herablassend als würde ich lügen. Auf meinen Einwand, dass ich mir ein Fitnessstudio als Schülerin/Studentin nicht leisten kann kam die Antwort: „Tja, wenn du dir das nicht wert bist, kann ich dir auch nicht helfen.“ Erst meine FA wurde dann darauf aufmerksam, dass irgendwas nicht stimmen könnte und nach einer Untersuchung der Schilddrüse, sowie des Blutdrucks und des Herzens konnte festgestellt werden, dass es bei mir durchaus auch gesundheitliche Ursachen hat.

    Doch trotz dieses Wissens, dass mein eigener Körper da gegen mich arbeitet und trotz meiner Bemühungen, die wirklich sehr mühsam sind, wenigstens etwas abzunehmen, fühle ich mich schrecklich verurteilt. Ich traue mich kaum noch, in der Öffentlichkeit etwas zu essen. Erst gestern, gegen Mittag, habe ich mir drei Mal überlegt ob ich nun zum Bäcker gehe und mir ein belegtes Brötchen kaufe, um es dann im Zug – also vor Menschen – zu essen. Ich habe mir dann tatsächlich etwas gekauft, mich allerdings vor dem Verkäufer geschämt und im Zug habe ich mir die abgelegenste Ecke gesucht. Was heißen will: an dem Punkt, darüber zu stehen, bin ich noch lange nicht……

    Ich danke dir daher wirklich von ganzem Herzen für diesen tollen, Mut machenden und aufrichtenden Beitrag und finde es großartig, dass du dich überwunden hast (Ich weiß wie schwer dir das gefallen sein muss, selbst dieser Kommentar hier fällt mir gerade sehr schwer…) diese Gedanken zu bloggen.

    Liebe Grüße,
    Lisa

    1. Ich danke dir für deinen ausführlichen und offenen Kommentar! Es freut mich so sehr, dass dir mein Text so sehr zu spricht.
      Ich glaube ganz fest an dich, dass du irgendwann darüber stehen kannst, deine angesprochenen Punkte bezüglich des Essens in der Öffentlichkeit kann ich dir nur zustimmen. Die Blicke sind einfach teilweise so zerstörend, dass man nicht mehr draußen essen mag. Aber wir packen auch das irgendwann :)!

      Liebe Grüße,
      Sandra

  2. Hi liebe Sandra,

    danke für diesen ehrlichen Post. Dieses Schubladendenken ist leider weit verbreitet und es „hilft“ jedem vom uns, in einer Welt überbordender Informationen sich zurecht zu finden. Dennoch ist es absolut falsch und verletzend so etwas zu sagen, denn das hat nicht mit Feingefühl oder Wertschätzung zu tun! Solche Ignoranz ist ja nicht zu fassen und manchmal kommt es auch noch aus dem Freundes- oder Familienkreis, wo es dann besonders wehtut.

    Ich wünsche dir ganz viel Kraft, lass dich davon nicht runterziehen! Und vor allem hoffe ich ,dass es dir gesundheitlich bald wieder besser geht!

    Liebe Grüße
    Desiree

    1. Danke für deinen Kommentar! Tatsächlich stammte der letzte Kommentar aus der Familie, was es dann noch schlimmer macht oder?
      Und ich danke dir für deine Genesungswünsche :)!

      Liebe Grüße,
      Sandra

  3. Hey liebe Sandra!
    Vielen, vielen Dank für diesen Beitrag! Ich muss ihn gleich erstmal überall teilen, weil deine Worte einfach so richtig und wichtig sind.
    Egal, ob es eine organische (wie bei dir) oder psychische Ursache (wie zB bei mir) gibt, oder auch gar keine spezifische, es wird einfach immer viel zu schnell geurteilt und selbst, wenn man sich irgendwann ein gewisses Schutzschild zulegt, trifft es einen doch immer wieder zumindest ein bisschen, was will man sich da schon vormachen?
    Ich möchte dir nur einmal sagen, dass du in meinen Augen nicht nur eine unglaublich tolle und starke Frau bist (auch, wenn das alles definitiv auf dich zutrifft!), sondern auch eine wirklich schöne! Du hast so ein tolles Gesicht, mit so strahlenden Augen und einem großartigen Lächeln (zwei Dinge, die mir immer am wichtigsten sind) und auch sonst gibt es nichts, was nicht zu dir passt ❤️
    Bleib wie du bist und vor allem glücklich!

  4. Manchmal ist es absurd, wie stark der Begriff „Schönheit“ eingeschränkt wird! Mädchen und Frauen wird noch so viel mehr als nur das Gewicht negativ ausgelegt. Dabei hängt es doch vor allem davon ab, ob man sich selbst schön und weiblich findet. Wäre es nicht schrecklich langweilig, wenn wir alle gleich aussehen würden?

    1. Liebe Monika,
      das wäre wirklich schrecklich, wenn alle gleich aussehen und dasselbe schön finden würden oder?
      Danke für deinen Kommentar :)!
      Liebe Grüße,
      Sandra

  5. Liebe Sandra,

    Ein wundervoller und wahrer Beitrag. Ich kann genau verstehen wie es dir damit geht, weil es bei mir sehr ähnlich war.
    Mit dem Unterschied das ich von Kind an bis Anfang 20 sehr dünn war. So dünn, dass ich quasi nur ein paar Kilo vom Untergewicht entfernt war. Obwohl ich gegessen habe. Nie Sport gemacht habe.
    Aber ich hab mich wohl gefühlt.
    Und dann plötzlich begann mein Körper sich zu verändern. Setzte immer mehr an, immer ein wenig mehr, erst merkte ich es kaum und dann war es nicht zu stoppen.
    Genau wie bei dir wurde eine Schilddrüsenerkrankung festgestellt.
    Und für mich ist es bis heute noch schwer mein Essverhalten zu kontrollieren. Weil ich es als Kind und Teenie nie musste, weil ich es nie gelernt habe.
    Ich möchte gerne ein paar Kilo abnehmen, ich muss nicht mal zu meinem Ursprungsgewicht zurück, aber ich fühle mich auch nicht schrecklich. Ich finde mich trotzdem schön, trotzdem ansprechend und es stört mich auch nicht riesig. Nur ein bisschen.
    Was mich mehr stört ist das was du beschreibst. Menschen die Urteile fällen ohne mich zu kennen. Die nicht verstehen was diese Stoffwechselerkrankung bedeutet und das es tatsächlich für mich schwerer ist abzunehmen, als für andere. Das ich mich trotzdem schön finde.
    Es wird einem schwer gemacht, einem vorgehalten und gezeigt „du bist nicht die gesellschaftliche Norm, also bist du nicht schön“.
    Aber das stimmt nicht!

    Ich weiß wir haben uns nur für einen kleinen Augenblick auf der FBM gesehen, aber ich weiß noch das mein erster Eindruck war, wie freundlich und nett du gewirkt hast und ich mich sehr gefreut habe das du und Tina mich angesprochen habt!

    Danke für diesen ehrlichen Artikel!

    Liebste Grüße
    Jenny

    1. Fühl dich ganz doll und ganz herzlich gedrückt <3!
      Ich bin froh, wenn ich andere Menschen finde, denen es eben so geht wie mir und die mich verstehen können. Und ich muss an dieser Stelle nochmal betonen, dass ich deinen Beitrag auf Twitter so toll fand <3! Danke dafür!!!

      Liebe Grüße,
      Sandra

  6. Liebe Sandra,

    Respekt, Lob und Dank für diesen Beitrag.

    Eine liebe Kollegin von mir hat mit Lipödem zu kämpfen. Ähnlich wie bei dir, war es von heute auf morgen da. Vielen Menschen fehlt das Verständnis, dass es hier nicht nur um viel essen und wenig Bewegung geht.

    Sie bemerken aber oft auch nicht, wie verletzend sie sind. Ich selbst habe seit der Jugend mit Übergewicht zu kämpfen und kenne die Blicke, die mich auch mit über 40 noch verunsichern, weil ich eben nicht (immer) im Reinen mit mir bin.

    LG Daggi

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